Die
VT als eigene Therapierichtung gibt es nun fast 50 Jahre. Sie hat, jeweils mit
ein bis zwei Jahrzehnten Verzögerung, die Entwicklungen der Psychologie
mitvollzogen. Vom Behaviorismus Wolpes und Skinners ist heute nicht mehr viel
übrig. Auf breiter Ebene wurde die kognitive Wende vollzogen. Meichenbaum und
Beck stehen der heutigen VT sehr viel näher als Wolpe und Skinner. Die meisten von
uns erleben das als Fortschritt. Aaron Beck ist zum meistzitierten Autor der
Sozialwissenschaften avanciert. Sein Abstand zum zweiten, Sigmund Freud, wird
von Jahr zu Jahr grösser. Aber der grösste Wandel, der sich vollzogen hat,
lässt sich nicht an einem bestimmten Namen festmachen. Es ist die
störungsspezifische Differenzierung, die Akkumulation des Wissens und Know hows
um bestimmte Störungen und Probleme herum. Sie wird von Vielen als so grosser
Fortschritt empfunden, dass ein Schritt dahinter zurück heute undenkbar
erscheint.
Auch
aus der psychotherapeutischen Versorgung ist die VT nicht mehr fortzudenken.
Wenn irgendeine Richtung ihrer Anerkennung sicher sein kann, dann sie. Auch der
verstockteste Psychoanalytiker stellt sie nicht mehr in Frage. Das ist der VT
nicht in den Schoss gefallen. Grundlage für diesen Erfolg sind die
unabweisbaren Wirksamkeitsbelege, die für die kognitiv-behaviorale Behandlung
der verschiedensten psychischen Störungen erarbeitet wurden. Da konnte keine
andere Therapierichtung mithalten, weder quantatitativ noch qualitativ.
Nun
sind wir in einer beneidenswerten Position: Wir können wohlgefällig auf unser
grosses Arsenal an störungsspezifischen Interventionen schauen und uns im
Bewusstsein sonnen, dass niemand es besser macht als wir.
Aber
heisst das auch, dass wir selbst es nicht noch besser machen könnten? Sind wir
mit dem Erreichten wirklich auf der Höhe der Zeit?
Die
Psychologie ist uns jedenfalls schon wieder einen Schritt voraus. Sie macht
gerade die nächste Wende durch: die neurowissenschaftliche. Wenn man von
der Vergangenheit auf die Zukunft schliesst, dann steht der Verhaltenstherapie
die nächste Wende unmittelbar bevor. Die kognitive Verhaltenstherapie wird sich
mit grosser Wahrscheinlichkeit zur Neuropsychotherapie entwickeln, so wie sich
die behavioristische Verhaltenstherapie zur kognitiven Verhaltenstherapie
entwickelt hat. Ich will Ihnen heute aufzeigen, warum mir diese Entwicklung
unausweichlich erscheint, warum wir sie nicht nur geschehen lassen, sondern sie
aktiv vollziehen sollten und was diese Entwicklung wahrscheinlich mit sich
bringen wird. Einiges davon wird überraschend sein.
Was
verstehe ich unter Neuropsychotherapie?
Zum
einen kann man Neuropsychotherapie methodisch verstehen, also in dem Sinne,
dass Psychotherapie sich neurowissenschaftlicher bedient.
1. Therapieerfolgsmessung:
Studie von Furmark et al.
Abb.1
2. Indikationsstellung
3. Hilfsmittel für
therapeutische Interventionen
- Feststellung mit dem
Scanner, wann bestimmte Hirnareale aktiviert, d.h. bereit für eine bestimmte
therapeutische Intervention sind.
Abb.2
- Aktivierung bestimmter
Hirnareale, z.B. durch Magnetstimulation oder sogar direkt durch
Elektrostimulation über Elektroden (ãHirnschrittmacherÒ), oder Beeinflussung
der Lernbereitschaft durch pharmakologischen Einfluss auf Neurotransmitter.
Aber
das sind keineswegs alle und nicht einmal die wichtigsten Einflüsse, die von
den Neurowissenschaften auf die Psychotherapie ausgehen werden. Die wichtigsten
Einflüsse werden nicht methodischer sondern konzeptioneller Art sein. Sie
resultieren aus der Erkenntnis, dass allen unseren psychischen Vorgängen
spezifische neuronale Erregungsmuster zugrunde liegen. Der Hirnforscher Joseph
LeDoux hat dies prägnant mit dem Titel seines letzten Buches auf den Punkt
gebracht: ãSyaptic Self: How our brains become who we areÒ. Der letzte Satz des
Buches lautet: ãYou are your synapses. They are who you areÒ (2002, S. 324).
Abb.3
Wenn
es stimmt, dass ausnahmslos alles, was wir denken, wissen, glauben, hoffen,
fühlen, erleiden, entscheiden oder tun sich bis ins letzte Detail auf die
Strukturen unserer Neurone und Synapsen und der Prozesse, die sich zwischen
ihnen abspielen, zurückführen lässt, wenn also das, was wir als seelisch bezeichnen,
sowohl in seiner Existenz als auch in seiner Beschaffenheit vollständig eine
Hervorbringung neuronaler Schaltkreise ist, dann hat das für das Verständnis
psychischer Störungen und für die Wirkungsweise von Psychotherapie weit
reichende Konsequenzen.
Auf
den ersten Blick könnte man meinen, wir Psychotherapeuten müssten nun den
Psychopharmakologen das Feld räumen. Aber bei näherem Hinsehen ergibt sich aus
den Erkenntnissen der Neurowissenschaften etwas ganz anderes, nämlich eine
enorme Bedeutung der Psychotherapie. Das Gehirn entwickelt und verändert sich
durch Expression des genetischen Potentials durch die Lebenserfahrungen, die
das Individuum in der Interaktion mit seiner Umwelt macht. Das Gehirn
kommt nicht ohne die Erfahrungen aus, die ihm über seine Sinne vermittelt
werden. Es ist spezialisiert auf die Verarbeitung von Sinneserfahrungen.
Neurotransmitter werden in allererster Linie als Reaktion auf Sinneserfahrungen
ausgeschüttet und die neuronalen Strukturen entwickeln sich als Ergebnis dieser
Erfahrungen. Wenn es schlechte Erfahrungen sind, haben sie schlechte
Auswirkungen. Davor können medikamentös modifizierte Neurotransmitter nicht
schützen. Die Erfahrungen, die ein Mensch macht, und welche Bedeutung sie für
ihn haben, hängen wesentlich davon ab, was ihn antreibt und was er tut. Die
meisten Erfahrungen werden nicht einfach passiv erlitten, auch diejenigen
nicht, die zu psychischen Störungen führen und die sie aufrechterhalten.
Menschen sind von ihrem ersten bis zu ihrem letzten Atemzug motiviert, nicht
nur annähernd, sondern auch vermeidend. Das gilt uneingeschränkt auch für
Menschen mit psychischen Störungen. Sie werden immer, auch wenn sie noch so gut
pharmakologisch behandelt werden, eine Anleitung und Unterstützung dafür
brauchen, dass sie sich andere, nämlich mehr positive und weniger schädliche
Erfahrungen herbeiführen als bisher. Erst durch konkrete positivere
Lebenserfahrungen kommt es zu sich selbst aufrechterhaltenden neuen, gesünderen
Strukturen und Abläufen im Gehirn. Es wird, auch bei starker Verbesserung der
pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten, zur Behandlung von psychischen
Störungen immer eine Berufsgruppe brauchen, die sich genügend Zeit nimmt und
die darauf spezialisiert ist, im Einzelfall herauszufinden, welche Art von
Erfahrungen der betreffende Mensch machen müsste, dass es ihm besser geht, und
die ihn darin anleitet und unterstützt, solche Erfahrungen wirklich zu machen.
Psychotherapie wird also durch die Hirnforschung keineswegs überflüssig. Im
Gegenteil, ihre Notwendigkeit ergibt sich unmittelbar aus einer
neurowissenschaftlichen Sichtweise psychischer Störungen. Sie wird deshalb auch
von denen, die ihr bisher skeptisch gegenüberstanden, zunehmend als notwendig
und wichtig anerkannt. Das gilt vor allem für die Hirnforscher selbst.
Neuroplastizität ist nicht nur ein Modewort. Der Begriff bringt eine für die
Psychotherapie ganz zentrale Erkenntnis zum Ausdruck: Man kann das Gehirn, auch
das eines erwachsenen Menschen, durch gezielte psychologische Einflüsse in ganz
erheblichem Masse verändern. Die Bedeutung der Neurowissenschaften für die
Psychotherapie lässt sich in folgender Weise auf den Punkt bringen:
Wenn
allen psychischen Prozessen neuronale Vorgänge zugrunde liegen, dann liegen
veränderten psychischen Prozessen veränderte neuronale Vorgänge zugrunde. Wir
können als nachgewiesen ansehen, dass psychische Prozesse durch Psychotherapie
wirksam und dauerhaft verändert werden können. Daraus ergibt sich, dass
Psychotherapie dauerhaft neuronale Prozesse und Strukturen verändern kann.
Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn verändert.
Wenn sie das Gehirn nicht verändert, ist sie auch nicht wirksam. Oder, in
LeDouxs Worten: ÒPsychotherapy is fundamentally a learning process for its
patients, and as such is a way to rewire the brain. In this sense,
psychotherapy ultimately uses biological mechanisms to treat mental illnessÒ
(LeDoux, 2002, S. 299).
Nach
meiner †berzeugung sind die Verhaltenstherapeuten in besonderem Masse
prädestiniert, sich diese Erkenntnisse zu eigen zu machen. Für sie ist es
besonders leicht, sich als Spezialisten zur Veränderung neuronaler Strukturen
durch gezielte Herbeiführung bestimmter Lebenserfahrungen verstehen. Letztlich
geht es bei jeder Psychotherapie um Veränderungen neuronaler
Erregungsbereitschaften, die in verschiedenen Gedächtnissystemen gespeichert
sind. Je mehr wir über die Funktionsweise der verschiedenen Gedächtnissysteme
wissen, um so gezielter und wirksamer können wir die neuronalen
Erregungsbereitschaften, die problematischem Erleben und Verhalten zugrunde
liegen, verändern. Die Verhaltenstherapeuten haben sich schon immer in
besonderer Weise mit den Gesetzen des Lernens, also mit Veränderungen des
Gedächtnisses beschäftigt
Wir
wissen heute viel mehr über die verschiedenen Gedächtnisformen und die mit
ihnen verbundenen verschiedene Arten des Lernens im weitesten Sinne als noch
vor ein bis zwei Jahrzehnten. Den Begriff des impliziten Gedächtnisses gab es
vor zwanzig Jahren noch gar nicht. Heute ist klar, dass die meisten psychischen
Vorgänge im impliziten Funktionsmodus, also ausserhalb des Bewusstseins,
ablaufen. Das gilt insbesondere auch für die Grundlagen psychischer Störungen.
Weil implizite Gedächtnisinhalte nicht erinnerbar sind, können Patienten über
die wirklichen Grundlagen ihrer Störungen nur in sehr beschränktem Umfang
valide Auskunft geben. Ich erinnere mich noch gut, wie wir in den Anfängen der
VT in unseren Explorationen immer nach den lebensgeschichtlichen Ereignissen
gesucht haben, in denen die €ngste der Patienten ursprünglich konditioniert
worden waren. Diese Bemühungen sind aus heutiger neurowissenschaftlicher
Perspektive unglaublich naiv gewesen. Heute wissen wir viel mehr darüber, wie
sich psychische Störungen entwickeln. Aber dieses Wissen ist noch recht jung
und die VT steht noch davor, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Diese Konsequenzen werden weit reichend sein und das Bild der VT nachhaltig
verändern
Ich
werde jetzt zunächst ausführlicher darauf eingehen, was wir inzwischen über die
Genese psychischer Störungen und ihre Grundlagen im Gehirn wissen. Danach werde
ich aufzuzeigen versuchen, wie sich dieses Wissen auf unsere Therapieplanung
und auf die konkrete Therapiedurchführung auswirken könnte.
Ich
werde hier in meinem mündlichen Vortrag nicht jede Aussage, die ich mache, mit
den Untersuchungen und Literaturstellen belegen, auf die ich sie gründe.
Stattdessen weise ich an dieser Stelle darauf hin, dass alle Aussagen, die ich
nachfolgend mache, empirisch sehr gut fundiert sind. Sie können die dazu
vorliegende Forschung in etwa zwei bis drei Monaten nachlesen in meinem Buch
Neuropsychotherapie. Es befindet sich gegenwärtig im Hogrefe Verlag im Druck
und wird etwa Ende Mai in Buchhandlungen erhältlich sein.
Abb.
4
1.
Was sagt uns die neurowissenschaftliche Forschung darüber, wie psychische
Störungen entstehen?
Schon
ehe ein Mensch zur Welt kommt, sind die ersten Weichen dafür gestellt, ob er
später in seinem Leben einmal psychische Störungen entwickeln wird. Die einen
Menschen kommen mit einer Tendenz zu negativen Emotionen und zur leichten
Aktivierbarkeit des Vermeidungssystems zur Welt (Tellegen et al., 1988). Daran
sind mehrere Gene beteiligt. Die Stärke dieser angeborenen Tendenz hängt davon
ab, wie viel von diesen Genen man mitbekommen hat (Baker et al., 1992). Eines
dieser Gene ist das von Lesch et al. (1996) identifizierte
Serotonin-Transportergen. Wer hier das weniger effiziente ãkurzeÒ HTT-Allel
ererbt hat, bei dem kommt es wahrscheinlich zu einer geringeren Expression
dieses Gens und in der Folge zu einer geringeren serotonergen Funktion (Bennett
et al., 1998). Serotonin hat eine ausgleichende, beruhigende Wirkung. Ein
Säugling mit einem kurzen Allel des Serotonin-Transportergens ist daher viel
schwerer zu beruhigen. Er stellt höhere Anforderungen an seine
Betreuungspersonen.
Die
Eltern des Säuglings stehen ebenfalls vor der Geburt schon fest. Sie bringen
Merkmale mit, die sie zu mehr oder weniger guten Bindungspersonen machen. Wer
selber eine unsicher gebundene Mutter hatte, entwickelt mit grosser
Wahrscheinlichkeit ebenfalls einen unsicheren Bindungsstil und gibt diesen
seinen eigenen Kindern weiter (Main, Kaplan und Cassidy, 1985; Ricks, 1985).
Eine unsicher gebundene Mutter zu haben, ist für ein Kind ein ebenso
schwerwiegendes Risiko, wie die Tendenz zu einem Vermeidungstemperament ererbt
zu haben. Ein zweites starkes Risiko für das Kind von Elternseite her sind
psychische Störungen der Eltern, insbesondere schwere Depressionen (Gaensbauer
et al., 1984; Radke Yarrow et al., 1985, Zahn Waxler et al., 1984).
Wenn
beide Risiken, ein ererbtes Vermeidungstemperament und eine Mutter, die es aus
dem einen oder anderen Grund schwer hat, dem Kind sichere Bindungserfahrungen
zu ermöglichen, zusammenkommen, sind die Weichen für die weitere Entwicklung in
eine ungünstige Richtung gestellt. Weil seine Erregung nicht durch die
Interaktion mit der Mutter herunterreguliert wird, erlebt das Kind nur selten
Entspanntheit, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Geborgenheit. Stattdessen
befindet es sich oft auf einem hohen negativen Erregungsniveau. Es versucht mit
den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, am meisten mit Schreien, Kontrolle zu
erlangen und sichere Nähe herzustellen, ist damit aber nur selten erfolgreich.
Es macht fast permanent Inkongruenzerfahrungen im Hinblick auf sein
Bindungsbedürfnis, sein Kontrollbedürfnis und im Hinblick auf das Bedürfnis
nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Die Mutter gerät ihrerseits in
einen ungünstigen negativ emotionalen Zustand, weil auch sie dauernd
Inkongruenzerfahrungen macht. Sie fühlt sich überfordert, zweifelt an sich als
Mutter, wird manchmal auch wütend auf ihr sie so frustrierendes Kind, das doch
eigentlich etwas Schönes für sie werden sollte. Auf beiden Seiten kommt es zu
negativen Emotionen, die sich gegenseitig hochschaukeln.
Währenddessen
ist das Kind unentwegt am Lernen. Es macht Lebenserfahrungen, die tiefe Spuren
in seinem impliziten Gedächtnis hinterlassen. Es lernt aber nicht, was es
eigentlich während dieser Zeit lernen sollte, nämlich die Erwartung, dass
zuverlässig jemand für es da ist, der erkennt, was es gerade braucht; dass es
Nähe haben kann, wenn es sich nach Nähe sehnt; dass es Einfluss auf seine
Umgebung ausüben kann, und zwar so, dass es bekommt, wessen es bedürftig ist;
dass es allmählich in ersten Ansätzen lernt, seine eigenen Emotionen selbst zu
regulieren. Die interaktive Regulation der Emotionen und Bedürfniszustände in
der Bindungsbeziehung ist die Grundlage für das Einspielen intrapersonaler neurophysiologischer
Regelkreise (Hofer, 1984, 1987), in denen die autonome Erregung mit ihren
verschiedenen neurophysiologischen Parametern durch negative Rückkopplung in
einem für den Organismus zuträglichen Bereich gehalten wird. Eine schlechte
interaktive Regulation der Emotionen in der Bindungsbeziehung wird zur
Grundlage einer späteren Tendenz zur intrapsychischen Dysregulation. Eine
Dysregulation autonomer Erregung, d.h. das Fehlen gut etablierter negativer
Rückkopplungskreise ist ein hervorstechendes Merkmal aller Angststörungen.
Diese Grundlage wird in den allerersten Lebensmonaten und Lebensjahren auf der
Basis der genetischen Voraussetzungen gelegt.
Bei
der Kombination ungünstiger Anlagen mit einer schlechten Bindungsbeziehung
lernt das Kind also Vieles von dem nicht, was später eine gute psychische
Gesundheit ausmacht. Stattdessen finden ganz andere Bahnungen statt. Neuronale
Erregungsmuster, die immer wieder aktiviert werden, werden besonders gut
gebahnt. In diesem Fall ist es die Bereitschaft zu negativen Emotionen.. Das
Kind wird sensitiviert für negative Emotionen. Es braucht immer weniger, um sie
auszulösen. Durch die dauernden Bahnungen entstehen immer übertragungsbereitere
Synapsen. Die mit negativen Emotionen befassten Hirnregionen entwickeln sich
besonders gut. Das sind in erster Linie bestimmte Teile der Amygdala und der
ventromediale und dorsolaterale Teil des rechten präfrontalen Cortex. Im Alter
von zehn Monten hat sich aus dieser Anlage und diesen Lebenserfahrungen bereits
eine dauerhafte neuronale Struktur herausgebildet, aufgrund derer man
voraussagen kann, wie ein Kind auf belastende Situationen wie kurze Trennungen
von der Mutter reagieren wird (Davidson und Fox, 1989). Diese Struktur bleibt
längerfristig stabil. Sie besteht immer noch mit 36 Monaten und ermöglicht in
diesem Alter die Voraussage gehemmten Verhaltens (Davidson, 1993). Das
Behavioral Inhibition System (Gray, 1982) kann bei diesen Kindern praktisch
lebenslang besonders leicht aktiviert werden. Es hat bis ins Erwachsenenalter
hohe Stabilität (Costa und McCrae, 1988).
Neben
der Sensitisierung im Sinne der immer leichteren Auslösbarkeit negativer
Emotionen finden fortwährend Konditionierungen statt, d.h. negative Emotionen
können durch immer mehr Reize ausgelöst werden. Auch dies fördert, dass das
Kind immer öfter in einen negativ-emotionalen Zustand gerät.
Es
werden aber in dieser Zeit nicht nur Bereitschaften zu negativen Emotionen
gebahnt, sondern begleitend dazu entwickeln sich die ersten Grundlagen für die
Motivationalen Schemata.
Abb.
5
Was
ein Kind, wie es zuvor geschildert wurde, während dieser Zeit erlebt, ist sehr
oft mit starken Inkonsistenzspannungen verbunden. Sie sind die Grundlage für
Vermeidungslernen. Das Kind wird versuchen, die negativen Zustände zu vermeiden
und zu beenden und dafür irgendwelche Mechanismen herausbilden, die durch
negative Verstärkung gebahnt werden. Die sich entwickelnden Vermeidungsziele
haben eine hohe ãmotivationale SalienzÒ im Sinne von Berridge und Robinson
(1998). Ihre Aktivierung ist von einer Dopaminausschüttung begleitet, die zur
besonders guten Bahnung all dessen führt, was die negativen Emotionen und
Inkonsistenzspannungen reduziert (Rada, Mark und Hoebel, 1998). Die
Vermeidungsziele erhalten ihre auf bestimmte Situationen bezogenen Mittel. Es
kommt zur Ausbildung von Vermeidungsschemata. Mit der Herausbildung
Motivationaler Schemata trägt das Kind allmählich immer mehr selbst zu den
Interaktionen mit der Umgebung bei. In dem Ausmass, in dem es
Vermeidungschemata entwickelt, ist seine psychische Aktivität dann nicht
konfliktfrei auf Annäherung ausgerichtet und das beeinträchtigt die
Befriedigung seiner Bedürfnisse.
In
den ersten Lebensmonaten und Lebensjahren entwickeln sich nicht nur die
neuronalen Strukturen für negative Emotionen und Vermeidungsschemata, sondern
auch grundlegende Regulationsprozesse im neurophysiologischen System.
Erfahrungen unkontrollierbarer Inkongruenz sind regelmässig von der
Ausschüttung von Stresshormonen begleitet. Normalerweise spielen sich sehr früh
in der Entwicklung negative Rückkopplungsmechanismen ein, welche die
Ausschüttung von Stresshormonen drosseln, wenn sie einen zu hohen Level
erreichen. Das Gehirn schützt sich mit dieser negativen Rückkopplung vor den
Schädigungen, die es durch einen dauerhaft zu hohen Cortisolspiegel erfährt. Zu
diesen Schädigungen gehört insbesondere eine Schrumpfung des Hippocampus, die
seine Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Neben der Bildung expliziter
Gedächtnisinhalte ist seine wichtigste Funktion die Verortung allen Geschehens
in Raum und Zeit. Ohne eine gut funktionierende Verortung emotionaler
Reaktionen in Raum und Zeit treten sie nicht nur auf in solchen Situationen, in
denen sie angemessen sind, sondern es kommt immer wieder zu überschiessenden
emotionalen Reaktionen und Stressreaktionen auch in Situationen, die objektiv
nicht gefährlich sind, wie es etwa bei Angststörungen der Fall ist.
Bei
andauernder unkontrollierbarer Inkongruenz kommt es also zusätzlich zu den
anderen bereits aufgeführten negativen Effekten zu einer Sensitisierung für
Stress, die lebenslang bestehen bleibt. Heim (2001) hat bei erwachsenen Frauen,
die als Kinder missbraucht worden waren, eine immer noch um das Sechsfache
erhöhte Stressreaktionen auf eine mittlere soziale Belastung im Vergleich zu
Frauen ohne Missbrauchserfahrungen gefunden. Bezeichnenderweise hatten viele
dieser Frauen eine Depression entwickelt. Der geschrumpfte Hipopcampus, den wir
bei Depressiven regelmässig vorfinden, gibt Zeugnis von dieser Vorgeschichte
der Depression.
Die
Entwicklung muss aber nicht zwangsläufig in eine ungünstige Richtung gehen,
wenn ein Kind anlagemässig ein Vermeidungstemperament mit auf die Welt bringt.
Wenn ein solches Kind Glück hat, trifft es auf eine besonders feinfühlige,
gelassene und kompetente Mutter, die sich durch seine Störanfälligkeit und
Tendenz zu negativen Emotionen nicht irritieren lässt, sich zuverlässig
liebevoll dem Kind zuwendet und ihm so trotz seiner schlechten Voraussetzungen
ganz überwiegend positive Wahrnehmungen im Hinblick auf sein Bindungs- und
Kontrollbedürfnis ermöglicht. Suomi (1987,1991) hat mit eindrucksvollen
Untersuchungen an Rhesusaffen gezeigt, dass sich solche Kinder prächtig
entwickeln können und später eher noch besser dastehen als Kinder mit besseren Erbanlagen,
die von einer durchschnittlichen Mutter grossgezogen werden. Auch wenn man ein
kurzes Allel des Serotonintransportergens ererbt hat, kann es zur Expression
der serotonergen Funktion kommen. Sie ist nur erschwert, nicht unmöglich. Das
genetische Handicap kann mehr als ausgeglichen werden durch eine günstige
Umwelt. Wenn es durch die besonders fürsorgliche Bindungsperson über längere
Zeit zu positiven Bindungs- und Kontrollerfahrungen kommt, entwickeln sich
positive neuronale Strukturen und Regulationsmechanismen, die sich dann selbst
aufrechterhalten. Das genetisch angedrohte Schicksal kann also durch positive
Erfahrungen in der frühen Kindheit zum Guten gewendet werden. Das Kind
entwickelt eine gute Stresstoleranz und Emotionsregulation und bleibt
lebenslang weit unempfindlicher gegenüber Belastungen, als es bei seinen
Erbanlagen mit einer weniger fürsorglichen Mutter geworden wäre. Ausserdem
werden bei ihm die Annäherungsschemata klar die Vermeidungschemata dominieren,
so dass es im Verlauf des späteren Lebens weniger leicht zu erhöhter
motivationaler Inkonsistenz kommt. Es ist damit weit weniger gefährdet, später
eine psychische Störung zu entwickeln.
Neurowissenschaftliche
Forschung und Bindungsforschung lassen keinen Zweifel daran, dass die Grundlagen
für psychische Störungen bereits in der allerfrühesten Kindheit gelegt werden,
in einem Lebensabschnitt, an den sich kein Mensch später erinnern kann. Diese
Grundlagen sind niedergelegt in impliziten Gedächtnissystemen und prinzipiell
nicht erinnerbar, auch nicht nach vielen Jahren auf der Couch und auch nicht in
Hypnose. Sie sind nie so kodiert worden, dass sie im expliziten Funktionsmodus
verarbeitet werden könnten. An die Grundlegung der eigenen Persönlichkeit kann
sich kein Mensch erinnern.
Es
ist dieses implizite Selbst, das letztlich unser Erleben und Verhalten
bestimmt. Auf die Art und Weise, in der es das tut, haben wir prinzipiell
keinen introspektiven Zugriff. Subjektiv sind die meisten von uns der Meinung,
dass ihr bewusstes Ich bestimmt, was sie tun. Das gehört zu den unser
Kontrollbedürfnis befriedigenden positiven Illusionen. Psychische Störungen
werden nicht als vom bewussten Ich bestimmt erlebt, sondern als von ihm
erlitten. Sie sind aber ein Teil von uns selbst, nämlich unseres impliziten
Selbst, auch wenn sie vom bewussten Ich heftig abgelehnt werden. Sie sind eine
aktuelle Hervorbringung unseres Gehirns.Es sind wir selbst, die sie
unfreiwillig hervorbringen. Ihre Grundlagen entziehen sich dem introspektiven
Zugang, aber was wir bewusst über uns denken, erfasst ohnehin nur einen kleinen
Teil unseres impliziten Selbst.
Psychische
Störungen entstehen aus dem, wie wir sind. Sie sind ein integraler Teil von uns
selbst, auch wenn wir noch so sehr unter ihnen leiden. Sie gehören zu uns wie
unser Lebenslauf. Ihre Grundlagen reichen zurück ganz an seinen Anfang. Sie
waren schon von Anfang an ein Teil von uns. In dem Moment, wo eine psychische
Störung aktuell entsteht, ist dieser Teil gerade besonders aktiv.
Die
Erfahrungen der frühen Kindheit brechen nicht plötzlich ab, sondern gehen in
der Regel kontinuierlich fort. Längsschnittuntersuchungen von Main, Kaplan und
Cassidy (1985), Sroufe, Carlson und Shulman (1993) und von Grossmann und
Grossmann (1991) haben gezeigt, dass unsicher gebundene Kinder ihre früh
erworbenen Handicaps in alle nachfolgenden Altersabschnitte weitertragen. Sie
haben ein geringeres Selbstvertrauen und geringere
Selbstwirksamkeitserwartungen, ein schlechteres Selbstwertgefühl, eine
schlechtere Resilienz (Robustheit) bei Belastungen. Ganz besonders nachteilig
unterscheiden sie sich von sicher gebundenen Gleichaltrigen in ihrem
zwischenmenschlichen Beziehungsverhalten und der Qualität ihrer Beziehungen mit
Peers. Sie werden von Peers und Lehrern als weniger sozial orientiert, als
weniger beziehungsfähig, empathisch und beliebt eingeschätzt als sicher
gebundene Kinder und Jugendliche. Sie können ihre Impulse, Wünsche und Gefühle
schlechter zum Ausdruck bringen, insbesondere auch negative Gefühle.
In
diesen Ergebnissen kommt eine grosse Tragik zum Ausdruck. Während diese Kinder
anfangs durch ungünstige Lebensbedingungen und/oder eine ungünstige genetische
Mitgift objektiv benachteiligt waren, sind sie es nun inzwischen selbst, die
die ungünstigen Erfahrungen der Kleinkindzeit perpetuieren und in andere
Lebensbereiche wie Schule und Peerbeziehungen hineintragen. Grundlage dafür
sind die inzwischen entstandenen Motivationalen Schemata. Ihre
Vermeidungsschemata sind stärker entwickelt als bei Kindern, die zuvor sichere
Bindungserfahrungen gemacht haben.
Die
frühkindlichen Lebenserfahrungen bestimmen also über die Motivationalen
Schemata, die sich im Kleinkindalter entwickeln, in hohem Masse die
Erfahrungen, die die betreffenden Kinder in den nachfolgenden Lebensabschnitten
machen. Bei Kindern in etwas weiter fortgeschrittenem Alter kommen noch
Verletzungen des Selbstwertbedürfnisses als weitere Inkongruenzquellen hinzu.
Bei der Fülle von negativen Erfahrungen, die Kinder mit einem ungünstigen
Entwicklungsverlauf in ihren ersten zehn bis fünfzehn Lebensjahren machen, ist
es nicht erstaunlich, dass viele von ihnen schon im Kindes- und
Jugendlichenalter psychische Störungen entwickeln.
Psychische
Störungen entstehen nach dem hier aufgezeigten Entwicklungsverlauf nicht aus heiterem
Himmel. Sie entstehen aus einer hochbelasteten psychischen Konstellation mit
einer Vorgeschichte, die sich Schritt für Schritt bis vor die Geburt
zurückverfolgen lässt. Verletzungen des Bindungs- und Kontrollbedürfnisses,
später auch des Selbstwertbedürfnisses spielen in diesem ungünstigen
Entwicklungsprozess eine entscheidende Rolle. Nach einer Metaanalyse von
Dozier, Stovall und Albus haben (1999) haben fast 90% psychisch gestörter
Patienten irgendeine Form von unsicherem Bindungsstil, wobei der Typ des
unsicheren Bindungsstils sich teilweise nach Störungen unterscheidet. Von 528
von Schauenburg und Strauss (2002) untersuchten stationären
Psychotherapiepatienten hatten über 90% einen unsicheren Bindungsstil.
Wir
wissen nach dem zuvor Gesagten, auf welchen verletzenden Erfahrungen ein
unsicherer Bindungsstil beruht und was er für die weitere Entwicklung bedeutet.
Fast alle Patienten mit schweren psychischen Störungen haben eine Vorgeschichte
von Verletzungen ihres Bindungs- und Kontrollbedürfnisses in ihrer frühen
Kindheit, wie es in einem unsichern Bindungsstil zum Ausdruck kommt. Ihr
Problem lässt sich deshalb nicht auf die zuletzt entwickelte Störung
reduzieren. Sie ist nur ein letztes Glied in einer langen Kette
verletzender Erfahrungen, die schliesslich zu so hoher Inkonsistenz geführt
haben, dass ein qualitativ neues Mittel zu ihrer Reduktion erforderlich wurde.
Für die Patienten selbst ist es auch klar, dass die psychopathologische Störung
im engeren Sinn nur einen Teil ihrer behandlungsbedüftigen Pobleme ausmacht.
Nur 9% aller Patienten geben die Besserung ihrer Störung als einziges
Therapieziel an. Drei von vier Patienten geben Probleme zwischenmenschlicher
Natur als eines ihrer drei wichtigsten Probleme an (Grosse Holtforth und Grawe,
2002). Das entspricht der grossen Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen
als Ort von Verletzungen der Grundbedürfnisse.
Wie
wir gesehen haben, unterscheiden sich Menschen, die eine psychische Störung
entwickeln, von jenen, die keine entwickeln, schon vor Ausbruch der Störung in
vielfältiger Weise. Sie neigen (im Durchschnitt) stärker zu negativen
Emotionen; sie können, wenn einmal negative Emotionen entstanden sind, diese
schlechter wieder herunterregulieren; sie reagieren mit überschiessenden
Stressreaktionen schon auf mittlere Belastungen und die Stressreaktionen halten
lange an. Ihr autonomes Nervensystem ist sehr oft übererregt. All dies hat sich
von klein auf bei ihnen ihnen eingespielt. Es haben sich entsprechende
neuronale Schaltkreise gebildet. Ihre Amygdala spricht auf alles, was irgendwie
bedrohlich sein könnte, ausserordentlich leicht und stark an und bringt diese
Schaltkreise in Gang, ohne dass dafür das Bewusstsein beansprucht wird.
Die
schlechte Emotionsregulation und geringe Stresstoleranz geht mit schlechtem
Coping und wenig adaptiven Konsistenzsicherungsmechanismen einher. Es besteht
bei ihnen eine erhöhte Gefahr, dass es immer wieder zu sehr starken
Inkonsistenzspannungen kommt, auch schon unter Bedingungen, die für andere
Menschen noch gut zu bewältigen wären.
Es
sind vor allem Situationen erhöhter Inkonsistenz, in denen sich neue neuronale
Erregungsmuster herausbilden. Die hohe Inkonsistenzspannung hält ein hohes
Verstärkungspotential bereit, das diejenigen neuronalen Erregungsmuster differentiell
verstärken wird, die zu einer Abnahme der Inkonsistenzspannung führen.
Menschen
mit einer Vorgeschichte von vielen negativen Bindungs-, Kontroll- und
Selbstwerterfahrungen bringen für die adaptive Bewältigung solcher kritischen
Inkonsistenzsituationen schlechte Voraussetzungen mit. Bei ihnen sind in dieser
Situation akut erhöhter Inkonsistenzspannung die Erregungsbereitschaften zu
überschiessenden negativen Emotionen und Stressreaktionen aktiviert, denn die
Situation beeinhaltet eine starke, bisher nicht kontrollierbare Inkongruenz im
Bezug auf wichtige Motivationale Ziele. In dieser Situation wird alles negativ
verstärkt werden, was dem Betreffenden irgendeine Art von Kontrollerfahrung
ermöglicht, denn das würde die Inkonsistenzspannung etwas reduzieren.
Es
könnten einem in einer solchen Situation unerträglicher Inkonsistenzspannung
z.B. ÒverrückteÒ Gedanken durch den Kopf schiessen wie dem eigenen Kind die
Augen auszustechen, sich am Türgriff mit einer tödlichen Kankheit zu infizieren
oder den Gashahn offengelassen zu haben. Horowitz (1975) hat in empirischen
Untersuchungen gezeigt, dass sich solche aufdringlichen Gedanken vor allem
unter Stress und bei starken negativen Emotionen einstellen. Auch normalen
Menschen schiessen manchmal solche verückten Gedanken durch den Kopf, aber sie
sind flüchtig und der Betreffende ergreift keine Gegenmassnahmen. In einer
solchen Situation starker Inkonsistenzspannung, in der negative Emotionen
aktiviert sind, für die man keinen Grund erkennt, passt ein solcher Gedanke
aber genau zu den negativen Emotionen. Der Betreffende erlebt sie als tiefe
Unruhe. Es drängt ihn, etwas gegen die grosse Gefahr zu tun und das kann
er ja auch. Er kann den Gashahn immer wieder kontrollieren, um ganz sicher sein
zu können, dass von ihm keine Gefahr droht. Er kann die Türklinke reinigen oder
vermeiden, sie anzufassen, und sich gründlich waschen, um sicher zu gehen, dass
er sich nicht ansteckt. Er kann Schere und Messer wegschliessen, um ganz sicher
zu gehen, dass sich seine aggressiven Impulse nie in die Tat umsetzen. Er kann
sich ganz fest vornehmen, solche schlimmen Gedanken nicht hochkommen zu lassen,
sie nicht zu denken (was erst recht dazu führen wird, dass er sie wieder
denkt).
All
das ermöglicht im Augenblick eine gewisse Kontrolle. Er kann wenigstens
irgendetwas tun. Die Kontrollerfahrung reduziert ein bisschen die
Inkonsistenzspannung. Das Kontrollverhalten wird dadurch negativ verstärkt,
d.h. besonders gut gebahnt. Es wird bei der nächsten starken Inkonsistenzspannung
mit erhöhter Wahrscheinlichkeit wieder auftreten, wieder verstärkt werden usw.
Aber nicht nur das Kontrollverhalten wird gebahnt, sondern alle in diesem
Moment aktivierten synaptischen Verbindungen. Das sind die situativen
Wahrnehmungen, die starken negativen Emotionen, die Kognitionen und das
Kontrollverhalten. Sie werden mit der Zeit zu einem neuronale Erregungsmuster
zusammengebunden, das so vorher noch nie aufgetreten ist. Es hat eine emergente
Qualität. Es ist etwas qualitativ Neues entstanden, nämlich die Anfänge einer
Zwangsstörung. Wenn die Inkonsistenzspannung anhält, weil sich an der
Konstellation der Motivationalen Schemata und der Lebenssituation, aus deren
Interaktion die Inkonsistenz resultiert, nichts ändert, wird dieses neue Mittel
der kurzfristigen Inkonsistenzreduktion immer wieder auftreten und immer besser
gebahnt werden. Schliesslich kann es nicht nur durch aktuelle
Inkonsistenzspannungen aktiviert werden, sondern auch durch daran assoziierte
Situationen, Gedanken, Erinnerungen, Emotionen. Das Störungsmsuter ist zu einem
gut gebahnten Gedächtnisbesitz geworden, der nun eine Eigenleben führt, auch
ohne Funktion zur Reduktion von Inkonsistenzspannungen. Solange diese anhalten,
wird das Störungsmuster aber auch seine Funktion zur Inkonsistenreduktion
behalten und immer dann besonders intensiv auftreten, wenn die
Inkonsistenzspannungen stark werden.
Das
Störungsmuster trägt natürlich immer nur kurzfristig zu einer Reduktion der
Inkonsistenzspannung bei. An ihren eigentlichen Ursachen ändert es nichts. Im
Gegenteil: Die Störung wird selbst wieder als Kontrollverlust erlebt, sie ist
unangenehm und abträglich für das Selbstwertgefühl. Die Störung erhöht also
über den Augenblick hinaus noch die Inkonsistenz im psychischen Geschehen,
führt zu einem noch intensiveren Auftreten der Symptomatik, zu ihrer weiteren
Verstärkung, zur Erhöhung des längerfristigen Inkonsistenzniveaus usw. Der
Teufelskreis, der viele psychische Störungen kennzeichnet, ist im vollen Gange.
Analog
können wir uns die Entstehung der meisten anderen Angststörungen vorstellen.
Bei allen Angststörungen gibt es eine wichtige Komponente, bei der das Bemühen
um Kontrolle zentral ist. Angststörungen haben bekanntermassen eine hohe
Komorbidität. Nachdem sich eine Angststörung entwickelt hat, entwickeln 40% der
Angstpatienten noch eine weitere Angststörung hinzu (Schulte 2000). In diesen
Fällen muss es einen fruchtbaren Nährboden für die Entwicklung weiterer
Störungen geben. Das ist eine dauerhaft hohe Inkonsistenzspannung mit ihrem hohen
Verstärkungspotential für alles, was ein bisschen Kontrolle ermöglicht.
Komorbidität kann daher als Hinweis auf eine dauerhaft hohe
Inkonsistenzspannung bei dem betreffenden Menschen angesehen werden.
Tatsächlich habe wir auch empirisch gefunden, dass Patienten mit hoher
Komorbidität besonders hohe Inkongruenzwerte haben.
Angst
ist ein Alarmsignal. Sie tritt auf, wenn ein Organismus sich bedroht fühlt. Die
Depression ist ein logischer nächster Schritt, wenn alle Bemühungen, die
Bedrohung dessen, was einem so wichtig ist, abzuwehren, scheitern. Wenn man
trotz verzweifelter Kontrollbemühungen in wichtigsten Bedürfnissen, Werten und
Zielen immer weiter verletzt wird, was bleiben einem dann noch für
Reaktionsmöglichkeiten? Wie soll man sich davor schützen?
Es
gibt einen Weg: Wenn man alles Wünschen und Wollen aufgibt, wenn man gar keine
Gefühle mehr entstehen lässt, wenn man alle Ansprüche aufgibt, wenn man sich
vor der Umwelt ganz klein macht und selbst abwertet, wenn man sich in seinen
Lebensfunktionen total reduziert, indem man nicht einmal mehr isst, wenn man
alles aufgibt, was einem Spass gemacht hat, wenn man sich von allen Menschen
zurückzieht, wenn man alles aufgibt, was einem wichtig war, wenn man jedes
Hineinwirken in die Umgebung sein lässt, dann ist man recht gut vor weiteren
Verletzungen gechützt. Die Depression ist aus dieser Sicht eine generalisierte
Schutzhaltung, ein auf die Spitze getriebenes Vermeiden von Verletzungen.
Das einzige, was bei einem Depressiven noch aktiv ist, ist sein Vermeidungssystem.
Die Amygdala und der ventromediale und dorsolaterale PFC, also die mit
Vermeiden und negativen Emotionen befassten Hirnteile, sind bei ihm permanent
aufs Höchste aktiviert. Der ACC, der für die Transformation von Emotionen in
klar erlebte Gefühle und für das Monitoring von Inkonsistenzquellen, die
aktives Hinwenden und Handeln erfordern, wichtig ist, ist bei ihm aber völlig
deaktiviert. Der Depressive hat aufgegeben. Er hat sich in den Schutz der
Krankenrolle zurückgezogen, sein Annäherungssystem abgeschaltet und das
Vermeidungssystem auf höchste Stufe gestellt. So erreicht er, dass er keine
weiteren Schläge mehr einstecken muss. Das ist keine bewusst verfolgte
Strategie, sondern diesen Veränderungen im Erleben und Verhalten liegen
Veränderungen in den neuronalen Strukturen zugrunde, die man nicht durch
bewussten Entschluss herbeiführen kann. Das generalisierte Vermeidungsverhalten
wird negativ verstärkt durch Vermeiden von noch mehr Inkongruenz. Das sind
Vorgänge im impliziten Funktionsmodus. Das totale Vermeiden ist die einzige
Form der Kontrolle, die dem Depressiven noch geblieben ist, und die kann ihm so
leicht keiner nehmen.
Die
Depression ist diejenige Störung, bei der es am klarsten ist, dass es über die
Symptombehandlung hinaus eine Inkonsistenzbehandlung braucht, wenn es zu
nachhaltigen Veränderungen kommen soll. Inkonsistenz ist nicht zu trennen
von den konkreten Lebensvollzügen des betreffenden Menschen. Um dauerhafte
Behandlungserfolge zu erzielen, muss man sich mit dem Leben depressiver
Patienten befassen. Deswegen werden medikamentöse Depressionstherapien alleine
nie zu wirklich befriedigenden Therapieerfolgen führen. Das Lebensglück und
Ðunglück ist nicht nur eine Frage der richtigen Mischung von Neurotransmittern,
sondern eine Frage der Lebenserfahrungen, die ein Mensch macht.
Viele
psychische Störungen gehen mit Depressionen einher. In allen diesen Fällen ist
das ein starker Hinweis darauf, dass bei diesem Menschen ein erhöhtes
Inkonsistenzniveau vorliegt. Das gilt aber auch für Komorbidität überhaupt. Wo
Komorbidität herrscht, muss es über längere Zeit Bedingungen für die
Hervorbringung psychischer Störungen gegeben haben.
Inkonsistenz
schafft gewissermassen den Raum, in dem sich psychische Störungen entwickeln
können. Wer in seinem Leben ganz überwiegend bedürfnisbefriedigende Erfahrungen
gemacht und eine Struktur Motivationaler Schemata entwickelt hat, die solche
Erfahrungen immer wieder hervorbringt, hat per defintionem ein geringes
Inkongruenzniveau. In seinen psychischen Abläufen herrscht Konsistenz vor. Sie
werden haupsächlich durch gut entwickelte Annäherungsschemata bestimmt. In
einer so beschaffenen Psyche gibt es keinen Raum für psychische Störungen. Es
fehlen die Grundlagen für ihre Entwicklung. Erst dort, wo Inkonsistenz in den
psychischen Abläufen herrscht, wo sie also nicht von mächtigen, auf positive
Erfahrungen ausgerichteten Ordnungsmustern bestimmmmwerden, entsteht ein Raum,
der von psychischen Störungen eingenommen werden kann. Inkonsistenz ist daher
die wichtigste aktuelle Bedingung für die Entstehung psychischer Störungen.
Wenn man diesen Raum eng macht, indem man die Konsistenz der psychischen
Abläufe verbessert, gibt es keinen Platz mehr für psychische Störungen.
Kongruenz und Konsistenz sind die natürlichen Gegenspieler psychischer
Störungen. Kongruenz und Konsistenz beziehen sich aber auf das motivierte
psychische Geschehen. Man muss sich in einer Psychotherapie mit dem motivierten
psychischen Geschehen befassen, wenn man den Raum eng machen will für psychische
Störungen. Wenn es gelingt, die Konsistenz im psychischen Geschehen zu erhöhen,
werden die psychischen Störungen zurückgedrängt. Wir haben hohe negative
Korrelationen zwischen Motivationaler Inkongruenz und vielen Aspekten
psychischer Gesundheit gefunden.
Abb.5
Natürlich
beeinträchtigen auch psychische Störungen selbst die Konsistenz im psychischen
Geschehen. Wenn die neuronalen Grundlagen einer psychischen Störung einmal so
gut gebahnt sind, dass sich die Störung verselbständigt, d.h. vom motivationalen
Geschehen abgekoppelt hat, müssen die neuronalen Störungsgrundlagen verändert
werden, damit Konsistenz im psychischen Geschehen herrschen kann. Zur
Veränderung dieser Störungsgrundlagen braucht es störungsspezifische
Interventionen. Störungsbehandlung und Inkonsistenzbehandlung sind keine
Gegensätze, sondern einander zuarbeitende therapeutische Strategien. Wie ihr
optimales Verhältnis in einer konkreten Therapie sein sollte, kann nur im
Einzelfall bestimmt werden. Um die jeweils besten Ansatzstellen für
therapeutische Interventionen zu identifizieren, muss in jedem Einzelfall
sowohl eine Störungsanalyse als auch eine Inkongruenzanalyse durchgeführt
werden.
Abb.
6
Eine
der wichtigsten Folgerungen aus einer neurowissenschaftlichen Sicht psychischer
Störungen ist also die, dass man sich in der Therapie nicht nur mit den
Störungen selbst, sondern auch mit den neuronalen Strukturen befassen sollte,
welche die Störungen ermöglichen und hervorbringen. Das gilt ganz besonders
dann, wenn mehrere Störungen gleichzeitig vorliegen, was eher die Regel als die
Ausnahme ist. Die neuronalen Schaltkreise, die den Störungen unmittelbar
zugrunde liegen, sind Teil eines umfassenderen neuronalen Netzwerkes. Dieser
neuronale Kontext der Störung ist ihr eigentlicher Nährboden. Die nachhaltigste
Behandlung psychischer Störungen ist diejenige, die der Störung ihren Nährboden
entzieht, indem sie die Konsistenz im gesamten neuronalen/psychischen Geschehen
verbessert.
Tatsächlich
ist empirisch eine Abnahme von Inkongruenz eng verbunden mit Verbesserungen in
allen möglichen klinischen Parametern, wie Symptombelasung, Wohlbefinden,
interpersonalen Problemen usw.
Abb.
7
Um
Störungen zu reduzieren, kann man also nicht nur an den Störungen selbst
ansetzen, sondern auchchn ihrem Umfeld, den Quellen von Motivationaler
Inkongruenz. Interventionen in diesem Umfeld können sich über eine Verringerung
des Inkongruenzniveaus auf die Störungssymptomatik auswirken.
Die
heutige VT mit ihren störungsspezifischen Manualen ist nach dieser
Betrachtungsweise zu sehr auf die Störungen selbst fokussiert. Das gilt nicht
nur für die Therapieziele und Ansatzstellen der therapeutischen Interventionen,
sondern auch für die Durchführung der Therapie und den Therapieprozess.
Auch
in der Therapie selbst macht ein Patient unentwegt Erfahrungen im Hinblick auf
seine Grundbedürfnisse. Wenn diese Erfahrungen positiv sind,
- wenn er sich also bei
einem feinfühligen, empathischen, engagiertem und kompetenten Therapeuten gut
aufgehoben fühlt,
- wenn er positive
Kontrollerfahrungen macht, weil das therapeutische Vorgehen transparent ist und
so gestaltet wird, dass er dabei gut mitmachen und mitbestimmen kann,
- wenn er sich nicht nur
von seinen problematischen Seiten zeigen kann, sondern immer wider auch in
seinen positiven Seiten wahrgenommen und darin ausdrücklich bestätigt sieht,
- wenn er in der Therapie
positive Gefühle erleben, wenn er darin auch einmal ganz entspannt sein und mit
dem Therapeuten gemeinsam lachen kann,
dann
sind dies alles Erfahrungen, die seine akut aktivierten Grundbedürfnisse sehr
befriedigen. Je intensiver solche Erfahrungen, desto mehr wird sich sein
Inkongruenzniveau verringern mit all den weit reichenden positiven
Folgen, die wir vorhin gesehen haben. Die schnellen Verbesserungen, die am
Beginn einer Therapie oft eintreten, gehen im Wesentlichen auf solche
bedürfnisbefriedigenden und inkongruenzreduzierenden Erfahrungen zurück. Diese
können eintreten, noch ehe überhaupt gezielt an der eigentlichen Problematik
oder Symptomatik gearbeitet wurde.
Diese
Einflüsse können keineswegs als unspezifische Wirkfaktoren angesehen werde. Sie
treten nicht einfach von selbst ein. Wenn ihr Veränderungspotential optimal
genutzt werden soll, müssen sie über die gesamte Therapiedauer hin
massgeschneidert auf die individuellen motivationalen Ziele, Möglichkeiten und
Grenzen des Patienten so gut wie möglich verwirklicht werden. Auf diese
anspruchsvolle Aufgabe, die man mit den Stichworten massgeschneiderte Beziehungsgestaltung
und Ressourcenaktivierung bezeichnen könnte, werden Verhaltenstherapeuten heute
in der Regel nicht sehr gut vorbereitet. Es handelt sich ganz überwiegend um
Arbeit im impliziten Funktionsmodus, während inhaltlich über ganz andere Dinge
gesprochen wird.
Inhaltlich
geht es in einer Therapie natürlich ganz überwiegend um die Probleme des
Patienten. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass diese nicht einfach mit
seinen Störungen gleichgesetzt werden können. Diese stellen in der Regel nur
eine Teilmenge der in der Therapie zu bearbeitenden Probleme dar. Bei einem
grossen Teil der Probleme handelt es sich um negative Emotionen, die zu oft, zu
intensiv und in Situationen auftreten, in denen sie als unangemessen angesehen
werden. Wie ist die therapeutische Veränderung negativer Emotionen aus
neurowissenschaftlicher Perspektive zu konzipieren?
Können
Angstreaktionen z.B. gelöscht werden? Das ist eine sehr interessante Frage von
grosser therapeutischer Relevanz. Die Forschung zu dieser Frage ist noch in
vollem Gange, aber es zeichnet sich eine wahrscheinliche Antwort ab: Nein,
Angstreaktionen können nicht gelöscht, sondern nur gehemmt werden. Wenn
Angstreaktionen sich im Verhalten, im subjektiven Erleben und in den
physiologischen Indikatoren von Angst verringern oder ganz verschwinden, bleibt
eine erhöhte Angstbereitschaft in der Amygdala dennoch weiterhin bestehen. Nur
die Weiterleitung der Erregung von der Amygdala zu anderen Hirnarealen wird
aktiv gehemmt.
Wenn
aber Angst nicht gelöscht, sondern gehemmt wird, stellt sich die Frage, wovon
denn die Hemmung ausgehen soll. Andere Hirnteile, die mit dem Output der
Amygdala in Verbindung stehen, müssen gleichzeitig mit der Aktivierung der
Amygdala Signale senden, die mit Angst möglichst unvereinbar sind. Damit
verschiebt sich die Aufgabe des Therapeuten von der Angst zu ihrem Kontext. Es
geht bei einer Angsttherapie nicht nur darum, den Patienten mit seiner Angst zu
konfrontieren. Davon alleine geht keine positive therapeutische Wirkung
aus, auch nicht wenn die Konfrontation wiederholt wird. Die
therapeutische Wirkung geht davon aus, dass die Auslösung der Angstreaktion in
einem betont angsthemmenden neuronalen Kontext erfolgt. Wichtigste Aufgabe des
Therapeuten ist es daher, einen solchen die Angst hemmenden Kontext
herzustellen.
Das
Behavioral Activation und das Behavioral Inhibition System im Sinne von Gray
(1982) sind zwei von einander unabhängige neuronale Systeme. Ihre Aktivierung
des Annäherungssystems begünstigt Annäherungsverhalten und positive Emotionen,
Aktivierung des Vermeidungsssytems Angst-, Schutz- und Vermeidungsreaktionen.
Wenn wir im Kino gerade einen unter die Haut gehenden Gruselfilm gesehen haben
und es gibt beim Hinausgehen plötzlich einen lauten Knall, erschrecken wir weit
mehr, als wenn wir zuvor gerade einen lustigen Film gesehen und viel gelacht
haben. Das liegt daran, dass im ersten Fall unser Vermeidungssystem
voraktiviert, man könnte auch sagen geprimt ist, und im zweiten Fall unser
Annäherungssystem. Man nennt diesen erst in den letztenJahren gut untersuchten
Vorgang Motivationales Priming. Wenn das Annäherungssystem geprimt ist, fallen
Angstreaktionen geringer aus, weil sie aktiv gehemmt werden. Die Hemmung geht
vom voraktivierten Annäherungssystem aus. Dieses Prinzip des Motivationalen
Priming können wir uns therapeutisch zunutze machen: Wenn wir eine Hemmung von
Angstreaktionen aufbauen wollen, dann müssen wir die Angstreaktionen in einem
möglichst stark aktivierten Annäherungskontext auslösen. Das gilt in der
Psychotherapie ganz allgemein. Fast immer, wenn wir Probleme des Patienten
behandeln, werden negative Emotionen ausgelöst. Das liegt in der Natur der
Sache. Mit der Aktivierung negativer Emotionen wird aber das Vermeidungssystem
aktiviert und das bedeutet, dass das psychische System auf Schutz, Abwehr und
Vermeidung ausgerichtet wird. Das ist für die Behandlung der Probleme und den
Aufbau einer Hemmung der negativen Emotionen höchst unwerwünscht. Es ist daher
für eine fruchtbare Behandlung der Probleme esentiell, dass der Therapeut
kontinuierlich das Annäherungssystem des Patienten primt, indem er positive
Motivationale Ziele und positive Emotionen aktiviert. Wenn ihm das nicht in
ausreichendem Masse gelingt, fehlt für die Hemmung negativer Emotionen und für
die Generierung aktiven Problemlösungsverhaltens auf Seiten des Patienten der
dafür erforderliche neuronale Kontext. Die Probleme werden dann zwar aktiviert,
aber es fehlt die entscheidende zweite Komponente für das Eintreten positiver
Therapieeffekte, der auf Annäherung ausgerichtete neuronale Kontext.
Wir
haben in den letzten Jahren umfangreiche Prozessanalysen durchgeführt und dabei
immer wieder gefunden, wie wichtig ein gutes Annäherungspriming ist, wenn man
in der Therapie Probleme behandelt, die mit starken negativen Emotionen
verbunden sind. Das Annäherungssystem kann man am besten aktivieren, indem man
den Patienten möglichst viele positive Wahrnehmungen im Sinne seiner
Grundbedürfnisse machen lässt, also für sein Bindungsbedürfnis, sein
Kontrollbedürfnis und sein Selbstwertbedürfnis. In unseren Prozessanalysen
haben wir deshalb Therapieausschnitte, in denen schmerzhafte Probleme des
Patienten behandelt wurden von trainierten Ratern daraufhin einschätzen lassen,
in welchen Ausmass die Patienten in dem jeweiligen Therapieabschnitt solche
bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen machen konnten. Wir sind dabei
folgenedermassen vorgegangen:
Abb.
8-15
Diese
Ergebnisse stimmen sehr gut überein mit den zuvor ausgeführten neurowissenschaftlich
inspirierten †berlegungen, wie negative Emotionen gehemmt werden können.
Es ergibt sich daraus die folgende Konzeption der Wirkungsweise von Psychotherapie:
Abb.
16
Die
Behandlung von psychischen Störungen mit störungsspezifischen Massnahmen ist
nach dieser Betrachtungsweise ein wichtiger, aber nicht der wichtigste Teil
wirksamer Psychotherapie. Das Herbeiführen bedürfnisbefriedigender Erfahrungen
zur Verringerung des Inkongruenzniveaus und zur kontinuierlichen Aktivierung
des Annäherungssystems durch massgeschneiderte Beziehungsgestaltung und
Ressourcenaktivierung sind eher noch wichtigere Teile der therapeutischen
Tätigkeit. Dieser Teil wirksamer Psychotherapie ist in der VT bisher nicht
genügend entwickelt und gepflegt worden. Es handelt sich um therapeutischen
Aufgaben, die nichts mit den Störungen des Patienten zu tun haben. Sie sind
störungsübergreifend. Durch die zu starke Fixierung auf die Störungen sind
diese wichtigen Teile therapeutischer Tätigkeit vernachlässigt worden. Auch bei
der Problembearbeitung stehen bisher zu sehr die Störungen selbst zu einseitig
im Mittelpunkt. Es gibt, wie ich vorhin ausgeführt habe, weit mehr
Ansatzstellen zur Verringerung von Inkongruenz und damit zur Induktion
allgemeinerer Besserungen als nur die Bearbeitung von psychopathologischen Störungen.
Wenn die VT die Konsequenzen aus diesen durch die neurowissenschaftliche Forschung und auch durch die psychotherapeutische Prozessforschung gut belegten Sachverhalten zieht, wird sich ihr Bild verändern. Sie wird die Eigendynamik psychischer Störungen weiterhin ernstnehmen und ihr mit störungsspezifischen Massnahmen Rechnung tragen, aber sie wird weniger auf die Störungen fixiert sein. Sie wird sich mehr mit dem motivationalen Kontext befassen, in dem Störungen entstehen und in dem ihre Behandlung erfolgt. Es ist nicht so wichtig, ob wir sie dann noch als VT oder als Neuropsychotherapie oder noch anders bezeichnen werden. Wichtig ist, dass sie einen ganzheitlicheren Blick auf den Menschen mit psychischen Störungen einnimmt. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive geht es in einer Psychotherapie, die nachhaltig wirken soll, nicht nur darum, Störungen zu beseitigen, sondern darum, die psychische Gesundheit zu verbessern, und psychisch gesund ist ein Mensch vor allem dann, wenn seine Grundbedürfnisse gut befriedigt werden. Es macht schon einen recht grossen Unterschied für das therapeutische Selbstverständnis, ob man das primäre Therapieziel darin sieht, Störungen zu beseitigen oder einem Menschen zu helfen, seine Grundbedürfnisse besser zu befriedigen. Dies ist nicht nur eine Frage von Werten, es ist auch eine Frage der Wirksamkeit.
Alles
deutet darauf hin, dass Psychotherapie, diealle Möglichkeiten nutzt,
die Konsistenz im psychischen Geschehen zu erhöhen, wirksamer ist als
Therapie, die sich nur auf die Reduktion von Störungen konzentriert.
Wenn die VT weiter an der Spitze wirksamer Therapien stehen will, wird sie
gut daran tun, der Bedürfnisbefriedigung ihrer Patienten mehr Beachtung
zu schenken. Dass uns ausgerechnet die neurowissenschaftliche Forschung einmal
zu dieser Erkenntnis bringen würde, ist sicher einigermassen überraschend.
Aber bei näherem Hinsehen doch wieder nicht: Es ist ja eigentlich nicht erstaunlich,
dass die Natur des Menschen fest in seinem Gehirn verankert ist. Je mehr man
sich mit dem Gehirn beschäftigt, umso klarer sollten sich die spezifisch menschlichen
Qualitäten herausschälen und dazu gehört, dass erst der motivationale
Aspekt dem Leben des Menschen Sinn und Bedeutung verleiht. Man kann psychische
Störungen nicht von dem motivationalen Kontext lösen, in dem sie
entstehen und stehen bleiben. Das gilt auch für ihre Behandlung. Wenn
die VT diese Erkenntnis einmal internalisiert haben wird, wird sie nicht mehr
dieselbe sein. Wie sie sich dann nennen wird, sei dahingestellt, aber Neuropsychotherapie
wäre nach meiner Meinung keine schlechte Alternative.